Eines Nachts haben mich drei Engel besucht.
Mein Status diese Nacht ist ungeheuerlich. Ich habe den Abend vor Weihnachten hinter mir, und der hat in einem tränenreichen Begießen meiner neu erworbenen Einsamkeit geendet. Kathrin ist weg, ihre Haarbürste im Bad ist weg, ihre Schuhe im Flur sind weg, ihre Zahnpasta ist ordentlich zugedreht und ebenfalls weg, selbst ihre nassen Teebeutel im Spülbecken sind weg, gut, ab und zu finde ich noch diese schwarzen dünnen Haarnadeln überall, aber es werden immer weniger. Sie fehlt. Und diese Tatsache wringt mir die Gedärme aus wie ein nasses Handtuch. Eine Kälte hat sich in der Brustgegend links ausgebreitet, und die ließ sich gestern nur durch den Genuss von Hochprozentigem leidlich ertragen.
Jetzt tut mir der Kopf weh und ich friere. Ein kalter Windhauch hat mich geweckt. In eine Decke gewickelt tapse ich den Gang entlang um die Balkontür zu schließen, mich leise fragend, ob ich das nicht gestern schon getan habe – bis ich feststelle, dass in meiner Wohnküche Licht brennt. Ich erstarre komplett und mustere den Lichtstreifen, der sich unschuldig auf die Fliesen ergießt. Das Licht flackert, ich höre Stimmen, Gespräche aus dem Fernseher. Mein Unterbewusstsein fragt zeitgleich nach dem Ursprung eines Geruchs, der aus dem Zimmer hervorquillt und meinen Magen stranguliert. „Eier mit Speck“, sagt mein Großhirn, und ich bekomme es mit der Angst zu tun.
Jemand ist in meine Wohnung eingebrochen. Am Abend vor Weihnachten. Und macht sich in meiner Küche Frühstück. Ich schlucke und unterdrücke das unkontrollierbare Zittern, das von mir Besitz zu ergreifen droht. Dann finde ich meinen verloren geglaubten Mut.
Zeit für Konfrontation.
Heldenhaft werfe ich die Decke von meinen Schultern und schlüpfe in meine Pantoffeln. Ich bewaffne mich mit einer verirrten halbvollen Tequila-Flasche vom Boden und stoße die Tür auf.
Sie sind zu dritt.
Der Erste verbreitet den Geruch. Er ist dabei, ein englisches Frühstück zuzubereiten und lässt zu diesem Zweck einen Monatsvorrat an Eiern in meiner unbeschichteten Bratpfanne verkohlen. Diesen Tierprodukt-Genozid hat er gekrönt mit einem Stück Bauchspeck, das im Ganzen in der Eierei vor sich hinschmort. Gerade steckt er Gesicht voran im untersten Kühlschrankfach, deswegen kann ich nur ein ausladendes Hinterteil und einen gefiederten Rücken ausmachen. Ich denke: Im Himmel muss das Essen gut und reichlich sein.
DIE Zweite entspricht schon eher meinen Vorstellungen eines Engels. Lange Haare und Beine, nettes Dekolletee, die Figur einer himmlischen Megan Fox. Sie sitzt am Küchentisch vor den versammelten Schnapsresten von gestern Abend und setzt eine um die andere an ihren süßen Mund. Ihr Zug ist beachtlich, zwischen zwei Flaschen wischt sie sich mit dem Handrücken über die Nase-Mund-Partie und stößt intermittierend auf. Die Hot-and-Crazy-Skala arbeitet eindeutig gegen sie.
Der Dritte ist jünger, trägt einen Iro und eine abgewetzte Jeansweste mit Aufnähern, „Highway to hell“ steht auf einem. Er lümmelt auf meinem Sofa, und das regt mich besonders auf. Weil:
Vor Kathrin hatte ich ein altes, hässliches, etwas unangenehm riechendes Sofa mit Charakter, da hatten sich Menschen drauf geliebt, da wurde an melancholischen Abenden Dosenbier drauf verschüttet, da spürte man jede Pizza, die an längst vergangenen Filmabenden darauf verzehrt wurde. Kathrin hat sich geweigert, die Wohnung damit zu teilen. Daher ist das Sofa, auf das der Flügelkerl seine dreckigen Springerstiefel gelegt hat, von ihr ausgesucht, neu, sauteuer und weiß. Um dem Ganzen das Sahnehäubchen aus Scheiße aufzusetzen, sieht er sich die Wiederholung der Sportschau auf voller Lautstärke an.
Ich hasse Fußball.
Alles in allem bin ich eher entsetzt.
Die Herrschaften nehmen von mir keinerlei Notiz. Erst als ich in meinem Entsetzen die Tequilaflasche fallen lasse und diese auf dem Boden in tausend Teile zerspringt (wahnsinns Metapher), rammt der fette Engel vor Schreck seinen Schädel gegen die Kühlschrankfachdecke. Fluchend und unsortiert zieht er sich zurück und wendet sich mir zu.
„Hallo Jens“, sagt er lächelnd, starrt mich zehn bis dreißig Sekunden lang an und entschließt sich dann, das entstandene Feuer in der Pfanne zu löschen.
„Lust auf Frühstück?“
„Wer seid ihr? Und was TUT ihr hier?“, platzt es aus mir hervor. Ich fühle mich jenseits von kacke. Kalt, verkatert, den widerlichen Eiergeruch in der Nase, herzkrank, und dann noch drei Engeln ausgesetzt, die meine Wohnung verwüsten. Was denn noch?
„Was denkst du, was wir hier tun?“, meint Fetti und lässt den schwärzlichen Eierschleim auf einen Teller flutschen. Der Speck platscht unaufhaltsam dazu.
„Setz dich, iss ein wenig, dann geht’s dir besser.“
Er zwängt mich auf einen Stuhl, drückt mir eine Gabel in die Hand und stellt mir das Massaker vor die Nase.
„Was wollt ihr?“, frage ich entsetzt, und sehe von dem Matsch auf in Fettis Gesicht.
„Wir sind hier für deine persönliche Katharsis. Ich bin der Geist der vergangenen Weihnacht“, sagt der alte Engel und setzt sich fromm lächelnd mir gegenüber. Wegen seines Bauchumfanges sitzt er ganz schön weit vom Tisch weg.
„Aha“, sage ich, die Gabel noch in meiner Hand haltend, und mustere seine Flügel.
„Aber ihr seid doch Engel.“
Er winkt ab.
„Da gibt es fließende Grenzen. Ob Geist oder Engel. Ist doch eigentlich auch egal. Fliegendes Fantasiewesen halt“, sagt er und lacht.
„Ober meinst du, Charles Dickens würde das so genau nehmen?“
Ich überlege kurz. Dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen.
„Die Weihnachtsgeschichte?“
Der Engel nickt selig.
„Na toll.“ Mein Gesichtsausdruck entgleitet. Da lässt mir die Rollenverteilung offensichtlich nur einen Part zu, und der ist der undankbarste. Meine Laune sinkt in den Keller, beeindruckend, dass das möglich ist, wenn man bedenkt, wie ich zuvor gestimmt war.
„Ich bin also Scrooge und muss eurer Meinung nach geläutert werden“, statiere ich wütend und lege endlich die Gabel weg.
„Und was soll das?“, frage ich aufgebracht und deute auf das Schlamassel auf dem Teller vor mir.
„Als Geist der vergangenen Weihnacht erinnere ich dich daran, wie früher deine Weihnachtsmorgen waren. Mit einem tollen englischen Frühstück nämlich, im Kreise der Familie, zubereitet von Muttern!“, erklärt der Dicke und tut so, als sei die gesamte Szene hier das Normalste der Welt.
Ich starre den fetten Engel an und suche den Wahnsinn in seinem Gesicht. Ich finde ihn nicht. Er lächelt selig und meint das alles verdammt ernst.
„Lass es dir schmecken“, fordert er mich auf.
Dazu, dass ich die Ei-gewordene Abscheulichkeit vor mir verspeisen muss, kommt es glücklicherweise nie, denn der Alki-Engel hält seine Zeit für gekommen. Sie schwankt polternd auf uns zu und fegt mit einer kraftvollen Armbewegung den Teller vom Tisch. Ich schreie kurz auf. Das Ei-Speck-Geschmiere ziert nun meine Küchenfront, der Teller zerschellt auf Höhe des Spülbeckens.
Die blaue Schönheit schwankt bedenklich, versucht, Blickkontakt aufzubauen und zu halten. Unter ihrem Pony schielen ihre blauen Augen hervor und fixieren einen Punkt knapp oberhalb meiner linken Augenbraue.
„Ich binner Geiss der hoiiitigen Weihnach“, lallt sie und stößt danach auf.
„Wie bitte?“, frage ich stirnrunzelnd.
„ICH BINNER GEISS DER HEUTIGEN WEIHNACH“, schreit sie und ich halte mir unwillkürlich die Ohren zu. Engel können sehr laut schreien.
„Un mein lieber Scholli – du hass Problbleme.“
Ich schlucke. Sie nutzt die Kunstpause für einen tiefen Schluck aus der Jacky-Flasche in ihrer Hand. Sie holt tief Lust.
„BLOSS WEGEN KATHRIN KANNSU DOCH NICH SAUFEN!“, brüllt sie dann.
„DIE BLÖDE ZIEGE HADDAS NICH VERDIENT!“
„Ähm“, sage ich und warte auf den Moment, in dem sie zusammenklappt.
„Is doch nich schöööön…“
Ihr Schielen verstärkt sich. Sie streckt einen Arm aus, wie um die Balance zu halten, und erbricht sich dann röhrend zu meinen Füßen auf den Fliesenboden. Ihre Augen rollen nach hinten.
Fetti fängt sie auf, legt sie aufs Sofa und setzt sich daneben. Er weckt den dritten Engel, der schlafend auf die Kissen speichelt. Ich bewege mich solange überhaupt nicht und starre auf die süßlich riechende Pfütze.
Der Rebell schaltet nicht einmal den Fernseher aus. Er grunzt, popelt sich in der Nase, nimmt die Springerstiefel vom Sofa und steht dann auf. Bedacht darauf, nicht in die Ausläufer der Riesenpfütze zu drehten, bringt er sich vor mir in Position. Er zieht einen zerknitterten Fresszettel aus der Hosentasche und liest ihn ohne auch nur einmal aufzusehen vor. Ich habe noch nie – noch NIE – einen Text gehört, der so eintönig und langweilig vorgetragen wurde. Nicht seit dem Referat von Matthias B. über die Gründung der Weimar’schen Republik damals in der Klasse 8c.
„Ich bin der Geist der zukünftigen Weihnacht“, leiert er und zieht kurz die Nase hoch, „und meine Botschaft ist, dass du nicht in Selbstmitleid versinken sollst, sondern glücklich sein und blablabla… Weil wenn nicht, dann wirst du so enden wie ich gerade eben.“
„Ich werde am Vorweihnachtsabend ‚Sportschau‘ gucken“, sage ich verächtlich. „Als ob.“
„Hast du damit ein verdammtes Problem?“, fragt er und sieht mich provozierend an. Ich weiß, es ist dumm. Doch ich kann nicht schweigen.
„Ich hasse Fußball.“
„ES GEHT UMS PRINZIP MANN, WILLST DU AUFS MAUL“, brüllt er, springt auf mich zu und ich kann mich gerade noch unter den Küchentisch retten, während er über meinen Stuhl stolpert und in einer Zimmerpalme landet. Unter meinem Tisch kauernd frage ich mich drei Dinge. Erstens: Warum können Engel so laut schreien? Zweitens: Warum sind ausgerechnet meine Engel aggressive seelische Wracks? und Drittens: Schlafen die Nachbarn noch?
Fetti ist aufgesprungen und birgt den Rebellen aus den kläglichen Resten meiner Yucca-Palme. Ich wage mich noch nicht aus der Deckung hervor und umschlinge meine Knie mit den Händen. Fetti begibt sich ächzend und knackend auf meine Augenhöhe und wendet erneut das Wort an mich.
„Also Jens, Botschaft verstanden?“, sagt er mit einem etwas schmerzverzerrtem Dr.Best-Grinsen im Gesicht. „Unsere Message für dich. Aufraffen, glücklich sein, nach vorne sehen – und vielleicht mal wieder duschen. Der letzte Rat kam von mir. Ganz persönlich“
Ich blinzle in Zeitlupe und sage nichts. Er nickt versonnen.
Dann richtet er sich ächzend wieder auf und zieht seinen Mantel zurecht. Ich höre, wie er mit den Fingerknöcheln zweimal auf den Tisch klopft.
„Jetzt müssen wir aber los!“
Der Rebell schultert die komatöse Schönheit, und dann verschwinden sie.
Was heißt, verschwinden. Ich hätte einen Sturm erwartet, ein helles Licht, ohrenbetäubenden Lärm, irgendetwas Göttliches eben – aber diese drei ramponierten Gestalten öffnen einfach die Balkontür und gehen hinaus. Als die Balkontür hinter ihnen geschlossen ist, krabble ich unter meinem Tisch hervor, stelle mich ans Fenster und sehe ihnen nach. Sie steigen an der Regenrinne den Balkon hinunter und gehen dann die Straße entlang, wie – ganz normale ramponierte Gestalten eben. Normale ramponierte Gestalten mit Flügeln.
Mir ist nicht klar, was mir da widerfahren ist. Die nächste halbe Stunde fühle ich mich auch nicht im Stande dazu etwas anderes zu tun, als am Esstisch zu sitzen und in die Leere zu starren.
Aber später dusche ich. Ich spüle die Pfanne und wische die Küche. Ich stehe mit dem Putzlappen in der Hand da und schaue auf mein weißes Sofa.
Meine Mutter ruft an, ob ich nicht doch zum Frühstück kommen möchte. Ich sage zu, lege auf, grinse und setze mich aufs Sofa. Ich streiche über die Polster.
In einer Ritze spüre ich etwas Kaltes, Metallenes: eine schwarze Haarnadel. Ich wiege sie versonnen kurz in der Hand.
Dann stehe ich auf und werfe sie vom Balkon.