Abführen, bitte

Für J.S., eine grandiose Ärztin und sicher auch tolle Krankenschwester

 

Das Wort „Abführen“ ist ein sehr kurioses Wort. Es kann in unterschiedlichsten Zusammenhängen verwendet werden und ist dann regelhaft mit höchst verschiedenen Bedeutungen aufgeladen. Im Film hören wir es zum Beispiel aus den Mündern knüppelharter Kommissare oder höchstneutraler Richter, die über dem Gerichtssaal zu schweben scheinen als eherne Instanz, und hier heißt es immer, dass jemand geschnappt wurde, dass jemandem Gerechtigkeit zuteil wird, dass jemand büßen wird für etwas Schlimmes, das er im Vorfeld verbrochen hat und dass wir alle, egal ob als Bürger von Chicago oder als Konsument dieses im Skript deutlich vorhersehbaren Krimis, heute Nacht beruhigt schlafen können.

 

Man kann „Abführen bitte“ aber auch als im Krankenhaus tätiger Mensch hinten in eine Patientenkurve schreiben. Als Anordnung. Und das bedeutet dann, dass alle Beteiligten büßen werden, und „in dubio pro reo“ findet hier keine Anwendung, denn egal, ob man Schuld ist oder nicht, das Urteil ist gesprochen.

 

Bevor wir „in medias res“ gehen und uns die Absonderlichkeiten verbunden mit abführenden Maßnahmen (und nein, auch wenn Sie es gerne hätten, ich meine hier nicht in etwa Handschellen) vor Augen führen, muss eine kurze Reflektion erfolgen über das schizophrene Verhältnis von Medizinern gegenüber Stuhl.

In Bezug auf Stuhlgang ist es nämlich durchaus nicht trivial, es richtig zu machen.

Es darf nicht zu viel sein, es darf nicht zu wenig sein. Er soll nicht zu hell sein und nicht zu dunkel. Am Fatalsten ist es, wenn es gar keinen mehr gibt, da werden alle nervös und fangen an im Laufschritt Patientenakten durch den Gang zu tragen. Ebenso schlimm ist es, wenn er dünn und häufig auftritt, denn wenn eine „Diarrhö“ in der Notaufnahme angemeldet ist, dann sind die Patienten auf einmal nicht mehr die einzigen mit akuter Atemnot. Patienten mit Durchfall sind potenziell ansteckend und man muss sie isolieren, und dann beginnt das hektische Klicken am PC, das Suchen nach dem Seltensten, die Jagd nach dem goldenen Vlies, dem „freien Zimmer auf einer Station der Inneren Medizin“ (ja, so etwas soll es geben). Und in einem Kreiskrankenhaus, dessen Bettensituation an manchen Tagen eher grenzkompensiert ist (in diesem Fall ein Euphemismus für „kurz vor dem völligen und unwiderruflichen Zusammenbruch stehend“), ist das ein ganz schön großes Wort, das – wie ironisch – ebenfalls mit einem großen S beginnt.

Da kann es schon mal vorkommen, dass ein Oberarzt mit verschwörerischem Blick und vermeintlich scherzhaft den Satz murmelt „Schreiben Sie in der Anamnese halt nicht Durchfälle, sondern häufige wässrige Stühle“ und dann im Laufschritt fluchtartig die Notaufnahme verlässt.

(„War das eine Anweisung?“, rufe ich hinterher, „Wie bitte?“, schreit er, „OB SIE DAS ERNST MEINEN“, brülle ich, „ICH KANN SIE NICHT VERSTEHEN“, dröhnt es vom Ende des Ganges, und ob das wirklich passiert ist, lasse ich jetzt mal offen, um einen Punkt zu verdeutlichen: Bleiben Sie mit Ihrem Magen-Darm-Infekt zuhause, wenn Ihnen an der lokalen Kranken- und Notfallversorgung etwas liegt. Wirklich. Ich bitte Sie inständig.)

 

Eines ist klar: Wir reden viel über Stuhl und Stuhlgänge. Man könnte meinen, dass es uns eine regelrechte Freude bereitet. Dem ist tatsächlich nicht so. Viele Mitarbeiter in Krankenhäusern haben starke Aversionen gegen Stuhl und verlassen Patientenzimmer fluchtartig, wenn sie audiovisuell oder olfaktorisch wahrnehmen, dass einer der Insassen aktuell in einem selbstproduzierten Fladen liegt. Die wahren Helden sind hier die Pflegekräfte, die dann mit Wassertanks, Paletten voller Waschlappen, frischer Bettwäsche und entschlossenem Blick anrücken, um das Desaster zu beseitigen und die Menschenwürde wieder herzustellen. Dies geschieht oft mit einer Stoizität, die an Zen-Buddhas erinnert. Besonders in der Notaufnahme schlagen hin und wieder Menschen auf, die Tätigkeiten wie Körperpflege oder Toilettengänge aufgrund ihres Zustandes nicht mehr alleine verrichten können. Dementsprechend furchtbar ist manchmal die Geruchsbelastung, und als ich einmal, nachdem ich die Aufnahmekabine fluchtartig und würgend verlassen hatte (ja, ich bin so ein Exemplar und schäme mich), eine Pflegerin fragte, wie zur Hölle sie das aushalten kann, kam die Antwort:

„Sein Zustand ist für diesen Menschen gerade lebensgefährlich, denn so will ihn keiner angucken, anfassen oder auch nur in einem Zimmer mit ihm sein.“

(Ich schrumpfe in mir zusammen.)

„Und wenn wir ihm ernsthaft helfen wollen, fange ich hiermit an.“

Und so rückt sie aus, und ich bleibe stehen, und staune erst einmal ein paar Minuten.

(Kleine Randbemerkung

Krankenpflegerinnen und Pfleger sind die Menschen, die tagtäglich von ihren eigenen Patienten herumkommandiert und angepflaumt werden, die Menschen, die Ihre Mütter und Großmütter und Väter und Großväter wickeln, waschen, füttern, ihnen Medikamente verabreichen, sie im Bett drehen, wenn sie drohen sich wund zu liegen, die Menschen, die nachts allein bis zu 40 schwer kranken Menschen ausgesetzt sind und die Verantwortung tragen für alles, was in den nächsten zwölf Stunden auf dieser Station getan und unterlassen wird – das sind AUCH die Menschen, von denen unser Gesundheitsminister gerne hätte, dass sie aus Kollegialität ein paar Stunden pro Woche mehr arbeiten, die ein absolut lächerliches Gehalt bekommen und einen schlechten Witz von Anerkennung als Dank für einen der Berufe, der seit jeher unsere Gesellschaft trägt und „Menschenwürde“, einen Zustand, der in unserem Grundgesetz im ersten Paragraphen steht, verwandelt von einem großen Wort in erlebte Realität. Und dass diese Menschen überhaupt noch Tag für Tag zur Arbeit erscheinen, aus Pflichtgefühl und Überzeugung, Liebe zum Menschen und Glaube an den Wert ihres Beitrages, das ist das eigentliche Wunder, und wer das nicht sieht, dem ist meiner Meinung nach nicht mehr zu helfen.)

 

Die Fälle aus der Notaufnahme sind Menschen, die bei uns so ankommen, und mit dem Zustand, in dem sie uns erreichen, haben wir wenig zu tun. Beim Abführen ist das anders, da sind ziemlich eindeutig wir die Wurzel allen Übels. Und zwar ab dem Zeitpunkt, an dem wir beschließen, dass eine Darmspiegelung sein muss. Erfahrene Patienten verziehen sofort nach Verkündigung der verheißungsvollen Nachricht das Gesicht.

„Die Spiegelung ist nicht schlimm, aber alles davor“, stöhnen sie, und ich kann es ihnen nicht verdenken.

 

Abführen bedeutet, dass bis zu 2 Liter eines künstlich schmeckenden Getränks heruntergewürgt werden müssen, die dann einige Minuten später den Körper mit Wucht und Pomp wieder verlassen. Diese Prozedur ist durchzuführen, bis die ausgeschiedene Flüssigkeit beinahe klar ist. Das klingt nicht nach Spaß, und jeder, der schon einmal eine Apfelschorle zu seinem Kaffee getrunken hat, weiß, wie dringlich die Lage schnell werden kann. Jetzt ziehen Sie mal noch Ihre Mobilität ab und Ihre willentliche Kontrolle über Ihren Schließmuskel, und dann haben Sie eine ungefähre Vorstellung davon, wie schrecklich diese Maßnahme für einen Menschen jenseits der 80 sein muss.

In der Realität bedeutet die Anordnung „Abführen bitte“ nicht nur, dass aus dem betreffenden Patientenzimmer den ganzen Nachmittag über Geruchsschwaden strömen werden, die einen beim Vorbeigehen sofort dazu bringen den eigenen Berufswunsch sowie jede einzelne Lebensentscheidung, die zu diesem Punkt geführt hat zu hinterfragen. Sie bedeutet auch, dass hinter der Tür ein runzliges, buckeliges Ömchen oder Öpchen den Tag mit entblößtem Hinterteil auf einem Nachtstuhl verbringt, den Oberkörper eingewickelt in Bettdecken gegen die Kälte, gequält von Bauchkrämpfen, während Pflegekräfte mit Engelsgeduld das Abführmittel oben in sie hineinbetteln und in regelmäßigen Abständen den Topf darunter leeren, bis das Ergebnis zufriedenstellend ist – damit der Assistenzarzt dann nicht im Koloskopiebefund lesen muss „Untersuchung wegen starker Restverschmutzung abgebrochen“, und die ganze Show von vorn beginnt, oder noch schlimmer, einfach umsonst war.

 

Der Punkt ist: Wir sind nicht immer die Guten.

Nicht alles, was sich für Patienten ausgedacht wird, ist hilfreich. Und nicht allen, die in ein Krankenhaus oder in das Gesundheitssystem im Allgemeinen geraten, wird das zuteil, was sie suchen: Besserung. Im Schlimmsten Fall nicht einmal Linderung. Manchmal gab es von vorneherein kein fassbares Problem. Manchmal war das Kind schon in den Brunnen gefallen. Manchmal ist schon die Krankenvorgeschichte eine medizinische Großbaustelle. Und manchmal machen wir durch unsere Maßnahmen auch schlicht und einfach alles kaputt. Dass jemand in besserem Zustand nach Hause geht, als er vorher war, das ist zumindest in der Inneren Medizin nicht die Regel.

Das kann einen traurig und wütend machen, denn man gibt sich ja nichtsdestotrotz sehr viel Mühe. Und wie man damit genau umgeht, das ist mir noch immer ein Rätsel. Vielleicht stumpft man ab. Vielleicht war die Vorstellung, dass es anders ist, nur Wunschdenken und man lernt mit der Realität zu leben. Vielleicht ist nicht jeder gemacht für die Innere Medizin, und vielleicht ist auch nicht jeder gemacht für einen Gesundheitsberuf. Das gilt es herauszufinden, und ich hoffe, dass jeder, der auf die eine oder andere Art ins Gesundheitswesen geraten ist, das irgendwann tut.

 

Zurück zum 80er-Jahre-Justizkrimi, wo gerade das Urteil verkündet worden ist, Menschen erleichtert in Tränen ausbrechen, Verurteilte düstere Blicke verschießen, siegreiche Anwälte ihr Triumpfgesicht aufsetzen und dramatische Streicher die Credits einleiten (oder einen kitschigen Cut vor den Gerichtssaal, wo ein Unschuldiger, der freigesprochen wurde, sich inbrünstig mit einem beidhändigen Schwiegervater-Shake bei seinem Verteidiger bedankt). Wunderbare Szenen, die das Leben schreibt, zumindest das Leben, das Autoren von 80er-Jahre-Justizkrimis gerne hätten. Leider geht es in der Realität weniger gerecht zu, weniger weich gezeichnet, weniger farbgesättigt, weniger hintergrundbegeigt. Guten Menschen geht es schlecht, schlechten Menschen gut, und ob dieser Tatsache könnte man sich hinsetzen und weinen.

 

Als Trost bleibt, dass nicht jeder, der „abgeführt wird“, ein Verbrecher ist. In meiner Welt sogar die wenigsten. Ich hoffe, dass diese Unschuldigen nicht trotzdem über die Maße büßen müssen, und dass alle Verfüger des Abführens diese Strafe (und auch die vielen anderen Undinge, die täglich verordnet werden) nur verhängen in der Überzeugung, das Richtige zu tun.

Einen Gesundheitsberuf ergreift man aus dem Wunsch heraus, jeden Tag jemandem zu helfen, und egal wie hässlich die Realität dann ist, diese Grundmotivation ist beim Großteil aller „Berufenen“ vorhanden.

 

Daran zumindest glaube ich, und das wiederum, das ist schön.

 

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*Streicher*

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THE END

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A Kreiskrankenhaus Production for Gedankenmaschine Blog

 

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Idea……………………………………………………………………..Fr. Dr. J.S.

Script…………………………………………………………….Laura Winter

Production Design…………………………………..Microsoft Word

Visual Effects……………………………………………………………..None

Sound Effects……………………………………………………………..None

 

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A special thanks to any staff of any hospital who made this possible

 

No animals were harmed in the making of this text

 

Ein Kommentar zu „Abführen, bitte

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