Es ist mir schon wieder passiert: Jahrelang habe ich einen Hype belächelt, um ihm dann total verspätet und mit lächerlicher Vehemenz selbst zum Opfer zu fallen. Diesmal ist es etwas, das ursprünglich indisch und spirituell ist, inzwischen in unseren Breiten aber eher instaworthy, weiß, weiblich und entitled: Yoga.
Eben noch müde über Körperkult und die „Einheit mit sich selbst“ der praktizierenden Menschen den Kopf geschüttelt, bin ich nur einen Augenblick später Besitzerin einer furchtbar riechenden Bio-Kautschuk-Yogamatte, habe eine superbequeme Sporthose ohne Gummizug gekauft, Newsletter abonniert und fühle mich wenn ich mal ein paar Tage die Matte meide „total blockiert“.
Wie konnte das passieren?
Wahrscheinlich hat die Pandemie mir den letzten Stoß versetzt, als Sportangebote rar waren und man wochenlang viel Zeit hatte, dem eigenen Hintern beim breiter werden nachzuspüren. Ebenso wurden intermedial in dieser Zeit Selbstachtsamkeit und Bewegung massiv propagiert, und ganz immun bin ich gegen sowas nicht. Es ist jedoch mehr als das. Alle Menschen, die so wie ich offensichtlich masochistisch veranlagt sind und versuchen zwei Leben in eines zu pressen, können den Appeal von Yoga sicher nachempfinden: Entspannung und gleichzeitig Bewegung. Durchatmen und gleichzeitig durchschwitzen. Das sind zwei Fliegen mit einer Klappe, und Yeah Mama, damit catcht man mich, mit sowas kriegt man mich an Board. (Wie Margarete Stokowski mal so schön twitterte: „Höre Meditationshörbuch auf doppelte Geschwindigkeit weil ich ein MACHER bin.“)
Noch dazu ist die Einstiegsdroge ganz niederschwellig verfügbar. Man muss keinen Kurs belegen, man kann einfach auf YouTube gehen, „Yoga“ eingeben und dann aussuchen: Yoga deutsch oder englisch, Yoga mit oder ohne Hund – kinderleicht! Eigentlich braucht man nicht mal Hilfsmittel, außer ein bisschen Platz – auch noch kostenlos! Die Videos sind vielfältig (oder haben wenn sich die Inhalte schon nicht immer groß unterscheiden zumindest verschiedene ansprechende Titel wie „Kraft und Beweglichkeit“, „Entspannung und Regeneration“, „Yoga for Courage“…). Noch dazu gibt es Yogavideos online für jede und jeden: von extrem fitter, in den Gelenken maximal auslenkbarer und Marathon-style-leidensfähiger Sportskanone bis hin zu „Sportklamotten angezogen und dann gemerkt, dass einem heute eher nach rumliegen ist“. Von den Yogalehrerinnen liebevoll kuratierte (und auf keinen Fall random immer wieder neu zusammengeworfene) Wochen- und Monatspläne fixen an und animieren zum Durchhalten.
Und dann ist da noch: die Community.
Die Yogalehrerinnen predigen ewige Dankbarkeit für die Unterstützung ihrer Digital-SchülerInnen und freuen sich wie kleine erleuchtete Schnitzel, dass ihre Videos weltweit praktiziert werden und wie „in sync“ das alles ist. Sie animieren zum Austausch in den Kommentarspalten und auch „off mat“. Da bin ich ganz unromantisch: die zahlreichen Views finanzieren das weiterhin regelmäßige Erscheinen pastellfarbener und macramé-beladener Verrenkungsvorschläge vor Urlaubsziel-tauglicher Traumkulisse, na klar, so eine Community ist eine ganz feine Sache.
Zweifel darüber kamen erst auf, als ich einen deep-dive in die Kommentarspalten gewagt habe, und mit Zweifel meine ich vor allem: an mir selbst.
Irgendetwas scheint mit meinem Yoga nämlich augenscheinlich nicht zu stimmen. Wenn ich „praktiziere“ (nie „mache“ oder „übe“!!!! Es ist nicht nur Sport, auf keinen Fall), geht es mir danach besser, ich denke mal weil ich ruhig geatmet habe, entspannt bin, diverse meiner zunehmend morschen Gelenke ordentlich geknackt haben und ich mich mal wieder in Richtungen bewegt habe, die in meinem überwiegend sitzenden Alltag nicht vorgesehen sind. Die Sport-Endorphine tun den Rest. Aber in der Community! Holy cow, da passieren ganz andere Dinge.
„Liebe (hier Name der entsprechenden deutsch- oder englischsprachigen, mit oder ohne Hunde praktizierenden Ikone einfügen),
Als ich das erste Mal eines deiner Videos gemacht habe, ging es mir richtig schlecht. Bis vor einigen Jahren hatte ich schwere Depressionen und chronische Rückenschmerzen, habe mich kaum motivieren können, und bin vor lauter Schmerzen an manchen Tagen nicht mal aus dem Bett gekommen. Eigentlich habe ich nur aus Neugierde auf dein Video geklickt. Aber als ich deine süße, warme Stimme zum ersten Mal vernommen habe, musste ich einfach aufstehen. Wirklich, nach zehn Minuten deines Videos bin ich schluchzend zusammengebrochen vor lauter Dankbarkeit. Meine Schmerzen waren plötzlich wie weggeblasen und das erste Mal seit sieben Jahren habe ich gelächelt. Ich habe mich so eins gefühlt mit dir, mit der Community, mit mir selbst. Seither vergeht kein Tag, an dem ich nicht mindestens drei deiner halbstündigen Videos gemacht habe. Sie helfen mir, ein besserer Mensch zu sein, Sport zu machen und motiviert zu bleiben. Neben Yoga habe ich mit dem Marathon-Training begonnen und letzten Monat meinen ersten Iron Man absolviert. Auch meine Depressionen sind wie weggeblasen und ich konnte beruflich voll durchstarten. Nächste Woche geht mein selbstgegründetes Start-Up an die Börse, und das habe ich nur dir zu verdanken!!!!“
Dieser (natürlich frei erfundene) Kommentar ist nur repräsentativ für eine Vielzahl an Wortmeldungen. Für die besonderen Leute der „Community“ ist Yoga wirklich etwas ganz Lebensveränderndes. Es ersetzt Psychotherapien, heilt Bandscheibenvorfälle und wahrscheinlich auch metastasierten Darmkrebs, löst Blutsfehden und versöhnt Kriegsparteien. Leute berichten von ihren bahnbrechenden körperlichen Veränderungen und Erfolgen, und wenn die sich nicht einstellen, dann sind es wahnsinnige Emotionen, die auf der Matte aus ihnen herausbrechen. Manche brüsten sich damit, dass Yoga der erste Sport seit Jahren ist, der trotz einer irgendwie gearteten aber unbedingt absoluten Unbeweglichkeit ausgeführt werden kann. Manche behaupten, seit dem Tag ihrer Geburt bei jedem Monatsprogramm mitzumachen und mit dem Verlust der Möglichkeit zum Yoga wahrscheinlich auch ihren Atemantrieb zu verlieren.
Da kann einem als Mainstream-Gelegenheits-Yogi schon einmal mulmig werden. Um mit der Unzulänglichkeit meiner Praxis nicht zu sehr konfrontiert zu sein, habe ich jedoch zu rationalisieren begonnen. Der erste und naheliegendste Verdacht über diese Kommentare ist ja auch, dass diese Berichte, naja… Vielleicht nicht die ganze Wahrheit enthalten und geschönt sind, oder, hm… Also… Vielleicht einfach nicht stimmen. Dann wiederum frage ich mich aber: Warum schreibt man sowas ins Internet, wo es jedermensch lesen kann?
Der wahre Hintergrund ist sicher komplex und ich behaupte nicht, die Wahrheit gepachtet zu haben. Aber ich denke, dass es nicht um Täuschung geht oder Selbstüberhöhung. Ich denke, dass diese Kommentare Zeugnisse sind von der Sehnsucht nach katharthischen, spirituellen Erlebnissen – kurz, nacht etwas MEHR als dem, was man als Mensch im Alltag so geboten und erlebt bekommt. Ich kann mir vorstellen, dass viele Menschen heute mitten drin stecken in einer spirituellen Krise, weil das Bedürfnis nach Überhöhung und außermenschlichen Erfahrungen zunehmend schwierig zu stillen ist. Glaube und Kirche, number one provider since the beginning of mankind, ist für viele nicht mehr tragbar, unter anderem weil sich deren Stellvertreter auf Erden oft so unmöglich aufführen. Magie ist für Kinder. Paranormales ist für Spinner und Aluhutträger, und wer auch nur ein klein wenig Tendenzen in diese Richtung gehabt hat, hat sich im Zuge der Pandemie wahrscheinlich davon abgewandt, um ja nicht mit Verschwörungstheoretikern und Irrdenkern vergesellschaftet zu werden (zumindest wäre das ein vernünftiger Reflex gewesen). Was bleibt uns dann noch außer teuren Urlauben in fernen Ländern, bunt-glasierten Donuts mit ganzen Schokoriegeln drauf und Techno-Festivals, auf denen gefärbtes Reismehl durch die Gegend geworfen wird, um mal ein bisschen mehr zu spüren als uns selbst?
Und das alles sind ja noch niedliche, harmlose Auswüchse. Andere suchen sich üblere Kanäle für ihren Bedeutungsüberschuss, glauben an abstrakte Dinge wie Nationalitäten, gefährliche und falsche Dinge wie die Überlegenheit einer bestimmten Hautfarbe, an bestimmte Staats- und Gesellschaftsformen oder geheime sinistre Weltordnungen. Aus solchem Glauben ist noch nie etwas Gutes entstanden.
Da wäre es mir lieber, wenn es mit ein paar herabschauenden Hunden getan wäre.
Deswegen habe ich beschlossen, mich mit meiner Community zu versöhnen. Ich freue mich, wenn jemand auf der Yogamatte etwas erlebt, das der Alltag sonst nicht hergibt und sich spirituell anfühlt. Außerdem ist traditionelles indisches Yoga im ursprünglichen Sinne ja auch kein Sport, sondern eine philosophische Lehre, wahnsinnig facettenreich, historisch gar nicht so einfach einzuordnen, und auf Spiritualität ausgerichtet. It is kind of the point. Was wir da heute machen ist jung, noch keine hundert Jahre alt und wahrscheinlich auch ein ganz mieser Fall von „cultural appropriation“ (was ich hier jetzt aber nicht mehr diskutieren möchte, schließlich ist dies ein Fass ohne Boden und der Text fast zu Ende).
Ein letzter Gedanke kam mir noch. Was, wenn alle Menschen an etwas glauben könnten, das produktiv ist, positiv und uns als Menschheit weiter bringt? Etwas, das uns eint? Kann es so etwas geben, das über Kulturen und Grenzen hinweg für alle gültig und verständlich ist? Könnte es so etwas sein wie „Güte und Milde“? „Menschenwürde“? „Nachhaltigkeit“? „Verantwortung“?
Und wohin könnten wir noch gelangen, wenn es so etwas gäbe?
Also, bevor Schlimme Dinge passieren: Macht euer Yoga. Lest Harry Potter und genießt die unterschwellige Gewissheit, dass die magische Welt wirklich existiert (funktioniert wahrscheinlich auch mit anderen Büchern). Probiert es vielleicht nochmal mit „Glück, Herz, Liebe, Gott!“. Fliegt nach Bali und findet raus, wie dort der Himmel schmeckt. Oder kauft euch einen pinkglasierten Donut mit einem gottverdammten ganzen Snickers drauf.
Und genießt, dass ihr euch kurz als mehr fühlen könnt als „nur Mensch“.
Ich verharre so lange im „herabschauenden Hund“ und warte ab was passiert. Vielleicht suche ich auch woanders. Und vielleicht gibt es für jeden Lebensabschnitt die passende Überhöhung, die sich dann immer wieder ändert.
Ich wünsche allen, dass sie sie finden, und dass Gutes daraus geschieht.