Bielefeld

Maier hatte lange recherchiert und sich eine Strategie zurechtgelegt.

(Tatsächlich war es nicht im Mindesten so einfach gewesen an die benötigten Informationen zu kommen wie gedacht. Auch im Zeitalter des Internets war man als suchender Mensch oft verloren. Es lag nicht an der Quantität der Information, die ja schier unendlich war, sondern an der Qualität. Zu differenzieren zwischen Vermutung, gefährlichem Halbwissen, gezielter Falschinformation und dem eigentlich gesuchten heiligen Gral: der zuverlässigen, glaubwürdigen Quelle und ihrem sachdienlichen Inhalt, war ermüdend und langwierig.)

Viele Optionen hatte er sofort verworfen. Insulin beispielsweise, sauber und nicht schwer aufzutreiben, war ihm zu unsicher. Zu häufig waren die Berichte, dass Menschen nach Überdosierung gefunden und „gerettet“ wurden, um dann als Apalliker auf Intensivstationen den Rest ihres Daseins zu frönen, bis ein Angehöriger Herz und Mumm genug hatte, die Maschine abstellen zu lassen. Auf so viel guten Willen konnte und wollte Maier nicht hoffen.

Erhängen, auch so eine Sache. Am Ende stolperte man oder der Knoten war nicht fest, man stürzte ab, brach sich beide Beine, lag dann in der eigenen Wohnung bewegungsunfähig in den eigenen Exkrementen und versuchte auf sich aufmerksam zu machen, bis die Schreie langsam vertönten und sich die anderen Partien des Hauses nicht mehr wundern zu brauchten, woher der Lärm die letzten Tage stammte.

Pulsadern aufschneiden. Was für ein Saustall. Und die aufgequollene Leiche am Ende in der Badewanne, sicher kein schöner Anblick.

Vor den Zug werfen. Schnell und zielsicher. Aber Maier war kein Unmensch. Er dachte an den Lokführer und all die Menschen, die auf ihrem Weg von A nach B von seinem tristen Ableben aufgehalten würden. So war Maier nicht. So wollte Maier nicht sein.

Also die Pistole. Nicht sehr sauber, und ihm war bewusst, dass man es auch hier ordentlich verbocken konnte, aber er hatte sich belesen und fühlte sich hinreichend informiert. Durch den Mund direkt ins Stammhirn, idiotensicher. Er hatte sich über Kaliber informiert und Schusskanäle, und die Waffe selbst zu bekommen, war am Ende kein Hexenwerk gewesen. Der Plan war, den Lauf in den Mund zu nehmen, nach schräg unten zu zielen, mit den Lippen dicht zu machen, zu entsichern und dann: Peng.

Maier übte jeden Abend vor dem Schlafengehen. Der Pistolenlauf prickelte verheißungsvoll in seinem Mund. Er schmeckte nach kaltem Metall und etwas Schwefel. Wenn er sicher war, dass der Winkel passte, täuschte er das Entsichern an und legte den Finger auf den Abzug; dann nahm er die Pistole wieder aus dem Mund, wischte den Lauf sorgfältig ab, wickelte sie wieder in das Geschirrtuch und schob sie unter das Bett, bevor er die Nachttischlampe ausmachte und sich schlafen legte.

 

Es gab jedoch noch Angelegenheiten zu regeln.

Als erstes ging Maier noch einmal ins Büro, um seine restlichen persönlichen Gegenstände abzuholen. Wagner, die alte hässliche Kröte, die Qualle, der elendige Lurch hatte sich an seinem Schreibtisch bereits eingerichtet und Maiers Sachen in eine Kiste geräumt und in die Ecke gestellt. Maier schäumte und rechnete damit, dass sein soziales Lächeln nur grenzwertig psychopathisch gelang.

„Maier, altes Haus“, tönte Wagner, „schön, dich nochmal zu sehen. Nimm’s nicht persönlich, ja? Ist halt heutzutage einfach alles Performance Performance Performance.“

Wagner konnte nicht gut Englisch. Maier nickte entrückt, bewegte sich wie auf Schienen zu seiner Kiste und hob sie auf, ging ohne ein weiteres Wort nach draußen und warf sie in den nächsten Container, der ihm unterkam. Danach fühlte er sich seltsam frei.

 

„Dagmar“, sagte er am Telefon zu seiner Lebensgefährtin. Wenn man sie so bezeichnen konnte. Sie schliefen ab und zu miteinander und lebten ansonsten derart nebeneinander her, dass sie auch schon zwölf Jahre hätten verheiratet sein können.

„Ja, Erwin“, tönte ihre näselnde Stimme aus dem Hörer.

„Ich fahre weg über das Wochenende“, erklärte er.

„Wo geht’s denn hin“, fragte sie teilnahmslos.

Sie hatte ihn eiskalt erwischt.

„Bielefeld“, sagte er.

„Was willst du denn in Bielefeld“, fragte sie. „Außerdem gibt’s das doch gar nicht.“

„Ja, das gibt’s gar nicht“, sagte er.

Sie wünschte ihm viel Spaß.

Dann legte er auf.

 

Er rief seinen Sohn an.

Er nahm nicht ab.

 

Er brachte seine Möbel nach unten, die großen musste er zuerst zerlegen. Es war harte Arbeit, aber befriedigend. Maier schnaufte und pustete und fühlte sich sehr lebendig. Für die Ironie darin hatte er nur ein mildes Lächeln übrig.

Blieb der Goldfisch.

Zunächst dachte er daran, ihn im Klo herunterzuspülen, aber auch so ein Mensch war Maier nicht und auf den letzten Metern hatte er auch nicht vor, so ein Mensch zu werden. Er schaltete also eine eBay-Kleinanzeige, anonym, nur seine Adresse trug er ein.

Er sah dem Goldfisch ins Gesicht und stellte das Aquarium auf den Boden. Den kleinen Tisch brachte er als Letztes hinunter.

Dann legte er sich auf das Parkett der leeren Wohnung, bettete die Waffe auf seine Brust und sah zur Decke. Er wartete.

 

Irgendwann am Nachmittag, die Sonne stand schon tief, klingelte es an der Tür. Maier stand auf und steckte die Pistole hinten in den Hosenbund. Er öffnete die Tür und da stand Wagner.

Maier entglitten die Gesichtszüge, und Wagner in der Folge auch.

„Maier“, sagte Wagner, „Was für eine Überraschung. Ich hatte ja keine Ahnung, wo du wohnst.“

Maiers linkes Auge zuckte. Er widerstand dem Impuls, die Türe einfach wieder zuzuwerfen.

„Was willst du hier, Wagner“, sagte er tonlos.

Wagner lächelte unsicher. Er trug seinen Mantel über dem Arm.

„Den Fisch“, sagte er.

„Welchen Fisch“, sagte Maier.

„Die Kleinanzeige. eBay. Fisch zu verschenken.“

Maier spürte alle Farbe aus seinem Gesicht weichen.

„Ich liebe Fische, wenn du deinen also nicht mehr haben willst, dann – Geht’s dir gut?“

Es ging Maier nicht gut. Und das lag an Wagner. Nur an Wagner.

Seine Hände zitterten, sein Herz schlug bis zum Hals. Er glaubte, platzen zu müssen – stattdessen zog er die Waffe und schoss Wagner in den Bauch.

Es hallte gewaltig. Wagners Blick war schmerzverzerrt und ungläubig, doch er hatte nicht geschrien. Maier packte ihn, zog ihn in die Wohnung und schloss die Tür.

 

Wagner brauchte mehrere Stunden, um zu verbluten.

Er zuckte, rang nach Atem, am Anfang hatte er sogar gebettelt, irgendwann dann nur noch wirres Zeug geredet.

Maier und der Goldfisch sahen zu.

Als er das letzte Mal nach Luft geschnappt hatte und schließlich ruhig dalag, zückte Maier sein Telefon und wählte. Es dauerte kurz, bis auf der anderen Seite jemand abhob.

 

„Hallo Dagmar“, sagte er.

„Erwin“, sagte sie überrascht. „Was ist mit Bielefeld?“

„Ich bin noch nicht gefahren“, sagte Maier.

Er wog seine Pistole in der Hand. Sie war schön warm.

„Willst du mit?“

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