Warum man einen Urlaub macht, in dem man permanent von Ort zu Ort fährt ohne wirklich anzukommen, ist eigentlich leicht erklärt. Man sieht viel in der zur Verfügung stehenden Zeit und sammelt daher auch sehr viele Eindrücke. Warum man das in einem Zug tut, ist auch leicht erklärt, denn es ist umweltfreundlich, man kann lesen oder dösen und kommt trotzdem voran, und außerdem reist man MITTEN IM LAND statt nur daran vorbei. Vorprogrammiert ist allerdings auch, dass sich eine Rundreise, bei der man alles, was man in den nächsten Wochen brauchen wird, am Körper und auf dem Rücken trägt, etwas entbehrungsreicher gestalten kann, als sich im Vorfeld antizipieren lässt.
Ich hatte großen Respekt vor dieser Art zu reisen. Einen erfahrenen Interrailer wird man von der Überzeugung, dass sein Urlaubsformat und seine Reisekultur überlegen sind, dennoch nicht so leicht abbringen. Man kann Argumente anführen wie: „Eine Interrailreise ist nicht erholsam, man kommt nie an, man ruht sich nie aus, und erst die Geräuschkulisse“ und damit auch Recht haben; der schmutzige, vor seinem Campingkochtopf zusammengekauerte Railer wird dir dennoch über seine Instantnudeln hinweg etwas entgegenbrüllen wie „Eine Interrailreise hat Erlebniswert!!! Der Weg ist das Ziel!!!“, um dann wortlos sein Süppchen zu löffeln, ins windschiefe Zelt zu krabbeln und selbstzufrieden einzuschlafen.
Als Interrailer wird man nicht geboren.
Aber man kann einer werden.
Dies ist meine Geschichte.
Zum Zeitpunkt, an dem wir einsteigen (haha), dauert der Trip schon einige Tage. Ich bin nicht alleine. Mein Begleiter ist ein erfahrener Interrailer, und obwohl ich nur ein junger Padawan bin und hin und wieder an meine Grenzen komme angesichts unseres puristischen Lebensstils, schlage ich mich wacker. Wir sind inzwischen einigermaßen routiniert, können unser Zelt in unter einer halben Stunde auf- und abbauen, haben das Milch-Management ohne Kühlung endlich im Griff und schon genug Semi-Katastrophen in der letzten Sekunde abwenden können, dass wir mit Stolz von uns behaupten würden: Wir können Osteuropa im Zug erobern.
Allerdings haben wir bisher Serbien noch nicht gesehen.
Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich zu diesem Zeitpunkt meines Lebens nichts über Serbien weiß. Ich kenne keine Serben. Serbien ist ein Land, von dem ich nur durch den Eurovision Songcontest weiß, dass es mal irgendwie zu Montenegro gehört hat oder andersherum. Früher war da mal Jugoslawien und seither ist es kompliziert. Im Interrail-Tourguide wird darauf hingewiesen, dass man nicht vom Kosovo aus nach Serbien einreisen soll; der Kosovo als souveräner Staat wird nicht anerkannt und wenn man von dort kommt muss man daher aus dem Äther illegal auf die serbische Grenzlinie appariert sein. Es würden schlimme Strafen drohen, die im Guide nicht weiter ausgeführt werden. Dank meiner popkulturellen Bildung glaube ich, dass die Reise dann in einem feuchten Kellerloch enden könnte, und Szenen aus dem Film „Hostel“, die ich lieber nie gesehen hätte, schießen durch meinen Kopf. Was spricht man in Serbien? Russisch? Die Schilder sollen jedenfalls auf Kyrillisch sein.
Wir sind ahnungslose, ignorante Touristen.
Serbien ist nicht als längere Station geplant.
Serbien liegt zwischen Ungarn und dem Meer. Daher müssen wir da durch, und gelingen soll das schnell und schmerzlos mittels Nachtzug.
Der Zug, den wir in unseren Recherchen auf der nicht ganz benutzerfreundlichen Internetseite der Serbischen Eisenbahn ausgewählt haben, fährt von Subotica an der serbisch-ungarischen Grenze aus nach Bar in Montenegro und braucht dafür um die 12 Stunden. In Eisenbahnforen wird diese Reise als „Eine der schönsten Zugstrecken Europas“ gehandelt. (Es gibt Zugfreunde-Foren. Sie sind einen Blick wert. Sie sind herrlich und tragisch und nerdy und wunderschön.) Wir sind Feuer und Flamme, als wir den Zug nach Subotica in Budapest besteigen und lassen uns auch nicht von der insuffizienten Klimaanlage die Laune verderben. Zumindest nicht allzu sehr.
In Subotica werden wir zunächst zum Verweilen gezwungen, da es unseren Nachtzug zu dieser Jahreszeit nicht gibt. Wir erfahren dies von den beiden weiblichen Bahnangestellten, die auf Holzbänken am Gleis sitzend Kette rauchen und sich lautstark streiten (oder auf Serbisch Belanglosigkeiten austauschen, am Tonfall ist das zunächst nicht eindeutig zu unterscheiden).
„Excuse me”, sprechen wir die Damen vorsichtig an. “We need tickets for the night train to Bar.”
Sie starren uns an, zunächst geschieht nichts.
„Ticket? For night train?“, versuchen wir es weiter.
„What train?“, eine verächtliche Gegenfrage, success!
„Train to Bar. Over Belgrad.“
„Train to Belgrad?“, fragt die Frau mit weit aufgerissenen Augen. Mit der Zigarette in der Hand fuchtelt sie in die Richtung, in die der Zug, aus dem wir gerade ausgestiegen sind, verschwunden ist.
„Train! Belgrad! This!“
Wir fragen wiederholt nach, doch die Tatsachen ändern sich nicht. Der Nachtzug fährt nur von Belgrad aus, und dorthin fährt erst morgen wieder ein Zug. Großer Mist. Wir besehen uns den Reiseplan und diskutieren, alles unter den strengen Augen der beiden rauchenden Bahnerinnen, die uns zunächst mit Skepsis, dann mit Verwunderung, kurz mit Verachtung und am Ende mit ehrlichem Mitleid beäugen.
Schließlich finden wir uns ab mit der Situation und dem offensichtlichen Mangel an Lösungen, und suchen ein Hostel in Subotica (!!! Wie beratungsresistent kann ein Horrorfilmkonsument bitte sein, noch schlimmer wäre eigentlich nur, an einem Freitag den 13. mit einem Haufen Teenies aus Football- und Cheerleading-Team eine einsame Hütte im Wald zu beziehen). Eine Unterkunft zu finden dauert nicht sehr lange dank der Hilfe einer engagierten jungen Passantin, die nach eigenen Angaben Englisch spricht (Erzähler: Doch eigentlich sprach sie es nicht) und den Weg weiß (Erzähler: Doch eigentlich wusste sie ihn nicht). Als sie ihre Unwissenheit doch bemerkt, zieht sie einen Taxifahrer unter unseren Protesten buchstäblich aus seinem Wagen, um uns an unser Ziel verweisen zu können. Wir sind ihr sehr dankbar und schämen uns.
Mit der Rezeptionistin des Hostels (!!!) scheitern wir das erste Mal auf dieser Reise komplett an der verbalen Kommunikation. Irgendwann schreibt sie „12 Euro“ und „Wifi Password“ gefolgt von Zahlen und Symbolen auf einen Zettel, und uns wird einmal wieder bewusst, wie wenig man eigentlich zum Überleben braucht.
Im sehr günstigen, sehr warmen und sehr gut ausgestatteten Zimmer (ohne Ähnlichkeit mit Kellerloch, Hollywood, you foul devil, eine weitere Lüge enttarnt) machen wir uns weiter über Nachtzugtickets schlau, und finden heraus, dass diese tatsächlich nur in Belgrad zu äußerst umschriebenen Zeiten am Schalter zu erwerben sind. In unseren beliebten Zugfreunde-Foren finden wir jedoch einen Weg, wie dieser Umstand umgangen werden kann. Es genügt wohl eine E-Mail mit den gewünschten Reisedaten an den „Highly recommended Mister Popovic“, ein Belgrader Bürger und inzwischen pensionierter Eisenbahner, der nur aus Gutherzigkeit für antichronistische Durchreisende Tickets besorgt und diese dann nach Absprache am Bahnsteig gegen Bargeld überreicht. Dies scheint eine absolut anerkannte Methode zu sein. Trotz großer Neugierde auf highly recommended Mister Popovic, entscheiden wir uns die Tickets selbst zu besorgen, denn so absurd wird unsere Ankunftszeit nicht sein.
Am nächsten Tag besteigen wir den Zug in Richtung Hauptstadt. Fast ein wenig traurig, denn Subotica war trotz Panne gut zu uns. Die beiden Damen vom Ticketverkauf lächeln uns immer noch leicht mitleidig an und winken dem Zug hinterher als er den Bahnhof verlässt. Bis Belgrad kommt es zu keinen gröberen Zwischenfällen, wir atmen durch.
Der Hauptbahnhof der serbischen Hauptstadt heißt „Beograd Centar“ und wird seit rund 20 Jahren außerhalb der Altstadt neu gebaut. Man kommt an im „Keller“ des Bahnhofs auf modernen Bahnsteigen, es gibt viele Gleise, es ist ein Durchfahrtsbahnhof. Wir müssen nur zwei Dinge erledigen: Das Ticket kaufen und Proviant für die Nachtzugfahrt besorgen.
Einen Schalter mit Information und Ticketverkauf finden wir schnell, und dort warten gleich zwei Tiefschläge auf uns:
1.) Unser Nachtzug ist ausgebucht. (Ich kann mir nicht vorstellen, was das für ein Tag für Mister Popovic gewesen sein muss und ärgere mich trotzdem, dass wir ihn nicht konsultiert haben)
2.) Es gibt erfreulicherweise einen weiteren Nachtzug nach Bar, aber der fährt nicht vom Hauptbahnhof ab, sondern von Topcider, ein kleinerer Bahnhof, den man wohl mit dem Bus erreichen kann. In diesem Zug gibt es nur noch Sitzplätze, die Liegewägen sind ausgebucht.
Kurz hängen die Mundwinkel tief, aber wir beruhigen uns schnell und schlagen zu. Wo die Busse nach Topcider abfahren, kann uns die unfreundliche Frau am Schalter jedoch nicht sagen, und gibt uns auch unmissverständlich zu verstehen, dass das zu null Prozent ihre Aufgabe und zu 110 Prozent unser eigenes Problem ist.
Wir schultern erneut die Rucksäcke und wollen uns eine Ebene höherschlagen, wo wir die Bahnhofshalle mit Snackständen und Touristeninformationen und emsigem Betrieb erwarten, doch nach einer steilen Treppe nach oben stehen wir in der serbischen Abendsonne. Es gibt keine Halle. Es gibt eine Betonplatte, die das Dach der Gleise bildet und aus der Stahlstäbe hinausragen, und sonst nichts. Es gibt nicht einmal ein Schild, das auf die Existenz des Hauptbahnhofs hinweist. Die Treppen sind überdacht mit einem Plastikhäuschen ähnlich denen, in denen in Deutschland vor Kaufland unsere Einkaufswägen geparkt werden. Es gibt keine Haltestelle. Wir wandeln ratlos auf und ab, finden aber keinen Hinweis auf einen Bus. Auch die nahe gelegene Tramstation bietet keine Linie nach Topcider. Die Internetseite des Nahverkehrs in Belgrad ist ähnlich informativ wie die des nationalen Bahnverkehrs, und nur auf Kyrillisch abrufbar. Wir wandern grenzverzweifelt zurück zum Hauptbahnhof und tatsächlich, da steht ein Linienbus! Der Fahrer ist sichtlich bemüht, aber auch er hat keinen blassen Schimmer, wann und wo ein Bus nach Topcider fahren soll. Seiner ist es jedenfalls nicht. Es mangelt nicht an Hilfsbereitschaft, der Fahrer zückt sein Smartphone und scrollt minutenlang hin und her, doch auch er muss vor der Website der Belgrader Nahverkehrsbetriebe kapitulieren. Er verabschiedet sich mit Handschlag und wünscht mit mitleidigem Blick alles Gute.
Wir konsultieren Google Maps, und beschließen, die Strecke zu laufen – wir haben ja Zeit.
Nach einem eineinhalbstündigen Gewaltmarsch erreichen wir einige marode Gleise und ein verfallenes Häuschen, das mit „Topcider“ beschildert ist, was aber auch einen Stadtteil von Belgrad bezeichnet – zumindest das konnten wir herausfinden. Wir haben schon einiges als Bahnhof verkauft bekommen auf dieser Reise, können uns aber beim besten Willen nicht vorstellen, dass hier ab und zu ein Zug hält. Wir treffen einen zahnlosen, adipösen Serben mittleren Alters, der sich als hilfsbereit herausstellt nachdem seinem Wunsch nach fünf Euro Schmiergeld entsprochen wurde. Er informiert uns, dass der eigentliche Bahnhof noch weiter in die Richtung liegt, in die er diffus fuchtelt.
Irgendwann kommen wir an einem richtigen Bahnsteig an, mit Kiosk und Bahnhofsgebäude. Proviant konnten wir im Supermarkt ergattern und verschlingen ihn komplett noch vor Zugeinfahrt.
Langsam füllt sich der Bahnhof mit Leben. Ganze Familien mit riesigen Koffern, Bettwäsche, Kochgeschirr, auf Stock gestützten Großeltern und teilweise auch Haustieren treffen am Bahnsteig ein. Es wird geschwätzt und gelacht. Die älteren Herren scheinen sich alle untereinander zu kennen, es wird sich überschwänglich begrüßt, unzählige Hände werden geschüttelt. Es sind verdammt viele Menschen, die in diesen Nachtzug wollen.
Irgendwann fährt der Zug ein. Es ist nicht gerade das neueste Modell und überwiegend verbeult, doch er scheint zu fahren und sehr lang zu sein. Vorfreude macht sich breit.
Von Einsteigen ist allerdings noch keine Rede. Ein lärmender offiziell wirkender Menschenpulk bewegt sich zunächst am Zug auf und ab und nimmt die Wägen in Augenschein. Ab und zu haut jemand einen Hammer gegen ein Rad und nickt dann wissend. Das Zentrum des Pulks und Höhepunkt des Lautstärkepegels ist ein Mann in gebügeltem Hemd, der der Lokführer zu sein scheint. Die Szene ähnelt dem Boarding of the Cabin Crew im Flugterminal, nur trägt keiner Uniform, der offensichtliche Anführer schreit sich in Rage und die Stewardessen sind gebückte Männer, die sich wild gestikulierend rechtfertigen. Sie bleiben vorne an der deutlich verschmutzten Lok stehen, der Häuptling wütet und deutet zur Windschutzscheibe. Schnell wird eine Räuberleiter errichtet, der Leichteste der Crew wird ins Sichtfeld der Fahrerkabine gestemmt und reinigt diese notdürftig mit Wasser aus einer Volvic-Flasche und seiner bloßen Hand. Es tropft auf seine Stunter, die in der untersten Reihe die Pyramide unter Einsatz ihres Lebens aufrechterhalten. Der Häuptling ist jetzt ruhiger; er hat einen Bekannten getroffen und ihm überschwänglich die Hand geschüttelt, er lächelt sogar.
Wir lösen uns von dem durchaus beachtenswerten Spektakel, weil wir jetzt endlich den Zug besteigen können. Von innen sieht er aus wie von außen: gut abgenutzt, aber stabil und wenn man nicht zu genau in die Ecken, auf den Fußboden, die Sitzpolster oder die Gepäckablagen sieht, auch sauber. Wir suchen die Sitze, auf denen wir die nächsten 12 Stunden verbringen werden. Sie zu finden ist leichter als in den meisten Zügen der Deutschen Bahn (Was noch verwunderlicher wird, als sich herausstellt, dass der Zug tatsächlich aus alten Wägen der Deutschen und Französischen Bahn zusammengestückelt ist). Es ist eine Dreiergruppe an der Tür zum Bistrowagen, wir sichern uns die einander gegenüberliegenden Sitze am Fenster. Auf dem dritten Platz findet sich ein freundlicher Glatzkopf Mitte 30 ein, dessen Beine unendlich lang sind und von dem ich nicht weiß, wie er an einem anderen Platz die Fahrt überleben würde. Er unterhält sich freundlich auf Serbisch mit der Familie, die die benachbarte Sitzgruppe einnimmt. Ausnahmslos alle Plätze sind mit schnatternden, aufgeregten Menschen belegt.
Dann fährt der Zug los.
Bald stellt sich heraus, dass die Tür zum Bistrowagen sich weder ordentlich schließt, noch öffnet. Die einzige Funktionalität scheint zu sein, dass sie beim Zufallen einen Knall ertönen lässt, der jeden Schlummer im Großraumwagen sofort beendet, die Kante der Tür donnert dabei jeweils nur haarscharf an meiner Kopfstütze vorbei und wirkt insgesamt wie eine senkrecht aufgestellte Guillotine. Das Beil fällt in jeder Kurve, und auf serbischen Gleisen rumpelt es ordentlich. Ich mutiere zum Nervenbündel. Unsere Sitznachbarn und wir werden zu einer Leidensgemeinschaft. Eine halbe Stunde lang hören und sehen wir uns das Spektakel mit an, dann interveniert der Glatzkopf. Er klemmt die Türe zwischen seinen riesigen Füßen ein und hält sie so halboffen fest. Das bedeutet einerseits, dass jeder, der in den Bistrowagen oder auf eine Toilette oder anderswo hin möchte, über seine massigen Unterschenkel steigen muss. Andererseits bedeutet das, dass die Tür zum Bordbistro permanent geöffnet bleibt und wir Großraumwagenschläfer alles mit der Bistrokundschaft teilen: Gelächter, Freude am Leben, Bierpfützen, kalte Zugluft aus den sperrangelweit geöffneten Fenstern und den Grund dafür: nebeldichte Schwaden an Zigarettenrauch.
Lieber das als die intermittierenden Kanonenschüsse der Schwingtür, denke ich mir und hülle mich gegen die zugige Kälte in meinen Schlafsack. Mein Partner entschließt sich hingegen, den Bistrowagen zu erkunden und eventuell ein Bier zu organisieren. Er kehrt nach ca. 15 Minuten aus dem Nachbarwagen zurück mit zwei grenzwertig kalten Dosen in der Hand und dem interessiert-verwunderten Stirnrunzeln eines Naturforschers des 20. Jahrhunderts im Gesicht. Laut seinem Bericht gibt es im Bistrowagen nichts außer zwei festmontierten Stehtischen, um die sich Gruppen weitläufig gestikulierender, rauchender, biertrinkender Menschen scharen. Ein Mann mit Kühlbox steht in der Mitte, aus der er für wenig Geld Dosenbier herausreicht. Er trägt keine Uniform, sondern Trainingshosen und arbeitet anscheinend nicht für die Serbische Eisenbahn. Es gibt keine Aschenbecher oder Mülleimer, die Reste des Gelages landen auf dem Boden. Halbleere Bierdosen werden vom augenscheinlichen Betreiber des Bistros sorgfältig eingesammelt und dann beiläufig aus dem Waggonfenster entsorgt. Wir diskutieren das eben beobachtete und genießen unser Bier. Alles kann so schön sein.
Das Treiben im Bistrowagen ebbt nicht ab. Die Schlafwagenleider finden mehr oder weniger Ruhe, einige Kinder sind schon auf den Schößen ihrer Eltern eingeschlafen und drücken ihnen, den gequälten Gesichtern nach zu urteilen, Blutzufuhr und Nervenbahnen ab. Der freundliche Glatzkopf schläft wie ein Stein und wird nur dann wach, wenn jemand über seine Beine fällt.
Es gibt einen äußerst begrenzten Zeitslot, in dem „sitzend in einem vor 35 Jahren mal gut gepolsterten Sitz mit kalter Luft aus allen Richtungen“-Schlafen bequem ist, und den versuche ich auszukosten. Der zunehmende Füllungsstand meiner Blase lässt mich jedoch nicht mehr in die Tiefschlafphase vordringen. Ich seufze, kapituliere und mache mich auf die Suche.
Im Halbschlaf taumle ich durch die unendlichen Zugflure und werde in den plötzlichen Kurven umhergeworfen wie eine Pausenbrotbox im Schulranzen eines Erstklässlers. Ich passiere mehrere Liegeabteile und beobachte mit tränenden Augen ganze Familien, die es sich in ihren Abteilen gemütlich gemacht haben, Abend essen, Hunde streicheln, Spiele spielen oder auf ihren Pritschen dösen. Nur schwer kann ich mich von dem Anblick lösen, doch der Blasendruck treibt mich voran. Bald erreiche ich zu meinem vermeintlichen Glück eine Toilette. Der Geruch eilt ihr voraus. Ich öffne die Tür und erblicke das Grauen: Das ganze Kämmerlein schwimmt vor Fäkalien, der Pott selbst ist so sehr mit einer braunen, ätzend riechenden Flüssigkeit gefüllt, dass in jeder Kurve die Soße zwischen Kloschüssel und Klobrille hervorschwappt. Ich schaffe es, mich nicht sofort zu erbrechen und schließe die Tür wie ein gesitteter Mensch, dem nicht gerade sämtliches Blut in die untere Körperhälfte versackt ist. Wie ein Roboter bahne ich mir weiter meinen Weg, auch die nächsten beiden Toiletten befinden sich in ähnlichem Zustand. Meine Verzweiflung wächst exponentiell mit steigendem Blasenfüllstand. Der Zug ist wirklich lang.
Doch dann! Eine Kloschüssel, die nicht bis zum Rand gefüllt ist, der Boden schwimmt nur mit Wasser und einigen aufgeweichten Papiertaschentüchern, sofern sich das im Halbdunkel beurteilen lässt. Angesichts meiner misslichen Lage fühlt sich dieser Ort an wie das Bad einer Hilton-Junior-Suite. Schnell entere ich die Kabine und schließe die Tür, sofort stehe ich im Dunkeln. Ich finde zwar den Lichtschalter, doch es geht nicht an. Ich versuche die Türe zuzusperren, doch der Hebel lässt sich nicht bedienen. Ich gebe zu, angesichts des beinahe jungfräulichen Zustandes dieses Throns hätte ich misstrauisch werden müssen. Aber es hilft nichts. Ich balanciere mit heruntergelassener Hose und zitternden Knien meinen Hintern über der Klobrille, bemüht, sie nicht einmal im Ansatz zu berühren, hoffend, dass ich die Kloschüssel auch nur annähernd treffe, mit einer Hand meine Hose über dem nassen Boden zusammenraffend, mit der anderen die sich eben noch in Reichweite befindliche Türe zudrückend. Mit in der Dunkelheit weit aufgerissenen Augen zweifle ich an allen meinen Lebensentscheidungen, die hierher geführt haben. „Der Weg ist das Ziel“, flüstere ich in die begrenzte Weite der Klozelle, schließe die Augen und gebe Wasser marsch.
Nach diesem Erlebnis stelle ich jede weitere Flüssigkeitszufuhr ein.
Zurück am Platz wickle ich mich in den Schlafsack und drifte immer wieder ab ins Reich der Träume. Wir halten oft. Manchmal sind es Grenzposten und wir müssen die Pässe zeigen (dass es mehr als einer zu sein scheint irritiert mich nicht übermäßig), manchmal stehen wir auf Gleisen auf freier Strecke ohne nennenswerte Bebauung. Wir bauen eine Verspätung von insgesamt 6 Stunden auf, und nur wenig davon wieder ab. Dafür bestaunen wir in der Morgensonne von Montenegro wie sich die Gleise durch Gebirge und Täler, Wälder und Schluchten schlängeln, „eine der schönsten Zugstrecken Europas“ hieß es, und hier hatten die Fremden aus dem Zugfreundeforum wirklich recht (Es hieß ja auch nicht „eine der schönsten ZugFAHRTEN Europas“, so ehrlich ist man unter Bahnenthusiasten, da lasse ich nichts auf die Schienen-Nerds kommen). Die Stimmung im Großraumwagen ist gelöst, langsam erwachen auch die Kinder wieder.
Dann wird es wieder ungemütlich: Mit steigender Sonne steigt auch die Temperatur. Der Zug scheint keine Klimaanlage zu haben, oder sie ist dem montenegrinischen Hochsommer nicht gewachsen – beides möglich. Wir strampeln die Schlafsäcke von uns und legen alle Schichten ab, deren Fehlen mit den Regeln des allgemeinen Anstandes vereinbar ist. Langsam schwellen die Beine an und werden schwer, die Vorräte gehen zur Neige, der Durst wird unerträglich. Ich stöhne arg, als wir uns langsam der Hauptstadt „Podgorica“ nähern, zirka zwei Stunden vor Endstation Bar.
Der Glatzkopf will hier aussteigen. Er rafft seine Sachen zusammen. Nachdem mein Begleiter und ich uns die Nacht über immer wieder untereinander unterhalten haben, outet sich unser Sitznachbar erst jetzt: Er spricht sehr gut deutsch. Interessiert fragt er, woher wir in Deutschland kämen. Sehr irritiert erklären wir: Südwesten, kleinere Stadt an der Donau, kenne nicht jeder, heiße Ulm. Klar, das kenne er, meint der Glatzkopf. Schiefes Haus! Wir machen große Augen. Woher er denn ausgerechnet Ulm kenne?
Der Glatzkopf zuckt mit den Schultern und zieht sein Handy hervor. Sein Schwager wohne in Senden. Er zeigt uns ein Foto von ihm und Schwager vor Schiefem Haus, wir haben keine Worte mehr.
Und wo wir dann jetzt hinwollen würden. Wir antworten wahrheitsgemäß: nach Bar, ans Meer. Und wir wären von Belgrad gekommen mit dem Nachtzug? Wir nicken. In diesem Schrottzug, mit Absicht? Wir nicken wieder, ich etwas weniger überzeugt. Er beäugt uns leicht abschätzig von oben bis unten: durchgeschwitzt, hungrig und durstig, gerädert und mit voller Blase kauern wir kleinlaut auf unseren mangelhaft gepolsterten Sitzen. Dann lacht er uns unverhohlen aus.
„Von Memmingen kann man fliegen. 2 Stunden, 40 Euro. Wusstet ihr nicht?“
Wir sehen uns an.
Meine Unterlippe zittert.
Mein Begleiter nickt mir ermutigend zu, und ich weiß, dieser Reiseabschnitt ist eine Prüfung, meine Prüfung vor der Aufnahme in die Heiligen Hallen der Zugfreunde. Dieser Moment entscheidet, ob ich über mich hinauswachsen kann und die wahre, wenn auch hintergründige Schönheit des Erlebten annehmen.
Ich wende mich dem Glatzkopf zu und schlucke.
„Der Weg ist das Ziel“, flüstere ich.
Der Glatzkopf lacht, aber ich halte seinem Blick stand.
„Na, dann gute Reise noch“, sagte er, schultert sein Gepäck und verschwindet mit einem Augenzwinkern.
Ich sacke im Sitz zusammen.
„Erlebniswert“, murmle ich. Mein Begleiter tätschelt mein Knie.
Mit einem sanften Lächeln im Gesicht sinke ich in traumlosen, erholsamen Schlaf.
– ENDE –