Zugegeben: ich hätte skeptisch werden müssen. Die „Gschnitztaler Hüttentour“ ist eine mehrtägige Höhenwanderung meist jenseits der 2000 m, und jede einzelne Etappe ist gekennzeichnet mit „schwierig“ (bis auf die vorletzte, die „mittelschwierig“ ist, vermutlich, damit man sie auch noch auf dem Zahnfleisch kriechend schaffen kann). Es gibt die Kategorien „Trittsicherheit“ und „Kondition“ in der Klassifizierung von Wanderungen, und in beiden war der Marker am rechten Ende platziert. Die Wege sind allesamt markiert mit „Schwarz“, aber das schockiert mich beim Wandern nicht so sehr wie beim Skifahren, wo man auch noch rutschige, scharfkantige, ellenlange Leisten an seine Stiefel montiert hat und damit in irrsinniger Geschwindigkeit über Packeis schlittert, in der besten Hoffnung, sich nicht Hals, Wirbelsäule, Arme, Beine oder alles gleichzeitig zu brechen, falls sich die Bretter überkreuzen. Es handelt sich immer noch nur um die Tätigkeit „Gehen“, und das mache ich schließlich schon mein ganzes Leben lang und überwiegend erfolgreich.
Von mehreren Freunden habe ich mir bestätigen lassen, dass auf diesen Websites überdramatisiert wird, damit keine Touristen in Flipflops auf der „Niederjochbichler Schnürpflspitz’n“ auftauchen und dann in Tränen aufgelöst von einem braungebrannten Bergwachtler Huckepack heruntergetragen werden müssen wegen einer Blase am großen Zeh. Alle haben genickt, wobei ich mir im Nachhinein nicht mehr sicher bin, wie zuversichtlich ihre Gesichter wirklich waren.
Auf jeden Fall habe ich zugesagt. Es war die Tour meiner guten Freundin Jana, und sie hätte alleine wandern müssen oder gar nicht, und wer ist nicht gern Heldin des Tages, vor allem wenn die Tat darin besteht, spontan einen bereits von vorn bis hinten durchgeplanten Urlaub anzutreten? Jana war happy, und ich Eigentümerin einer Stolz geschwellten Brust ob meiner Spontanität und meines Mutes.
Dass ich mich jedoch nicht auf eine Wanderung eingelassen hatte, sondern auf eine Art Himmelfahrtskommando mit Selbsterfahrungsversprechen, wurde mir spätestens auf dem Zenith des ersten Tages klar: Wir stehen auf dem Gipfel des „Gstreinsjöchl“ (kein Spaß, wer denkt sich diese Gipfelnamen aus???) und erblicken nach 7 Stunden zehrender Wanderung über Stock und Stein, Schneefelder und ehemalige Klettersteigpassagen, wo von Drahtseilen nur noch Residuen zu erkennen waren, das erste Mal die Hütte als Etappenziel des Abends. Steil unter uns. Bestimmt 500 Meter senkrecht.
– Exkurs: Höhenmeter. –
Für mich nach wie vor eine nicht greifbare, komplett mystische Einheit, die keinen Gesetzen zu folgen scheint, außer dem, dass zwischen den Wanderern Uneinigkeit über sie bestehen muss. (Beispielgespräch: „Vom Gstreinsjöchel zur Tribulaun[hütte, Anm. d. Aut.], des sind, pfft, was sind des, 200 Höhenmeter, wenn überhaupt.“ – „200? Des glaub i net. 300 kenntans scho sei, wenn net viere.“ – „Viere???? Ja nia ned.“)
Generell habe ich gelernt, Bergsteigern zu misstrauen. Ich weiß nicht, ob tatsächlich nur verschiedene Leistungsniveaus begründen, dass die Erzählung anderer Wanderer einfach nie auch nur annähernd deckunsgleich mit meinen eigenen Erfahrungen ist. Eine Passage, die ich für meinen Teil nur mit gutem Willen, Schweiß, Blut, Tränen und langanhaltendem Fluchen hinter mich bringe, wird kommentiert mit: „Fast bisschen uninteressant, die Strecke“. Als meine Freundin und mich Bedenken plagen, ob wir die nächste Etappe schaffen können, die die Überwindung von 1200 Höhenmetern rauf wie runter auf 10 km (!) beinhaltet, kommentiert ein Kollege: „Hm, ja, zum Stubaier [Höhenweg, den wir hier teilweise mitbegehen, Anm. d. Aut.] geht’s erst ein Stück runter.“
Stück – auch eine Maßeinheit, die ich neu kennen gelernt habe, und die in Bergsprech meistens gleichzusetzen ist mit „als Gedankenexperiment zur Begreiflichmachung der Unendlichkeit geeignete Wegstrecke, von Intensität und Leid her einem Kreuzweg nicht unähnlich“.
Den einzigen Bergwanderer, der uns die Wahrheit sagte, trafen wir um die Mittagszeit an einem heißen Wandertag, er war in einem ähnlichen Gespann unterwegs wie wir; der alpin fitte Part stiefelte stoisch voran, sein besser gepolsterter, schwitzender Begleiter stolperte hinterher und packte mich am Arm. „Kommt ihr von der Bremer [Hütte, Anm. d. Aut.]?“, keuchte er hervor. „Ja“, erwiderte ich verunsichert. „Wann seid ihr los?“ – „Gegen Acht“, antwortete ich. „Wir auch“, stöhnte er. Tränen sammelten sich in seinen Augen. „Oh Gott“, brachte er hervor, „Euch erwartet eine echt üble Kraxelei“, und ich sah die Geschehnisse der letzten Stunden vor seinem inneren Auge vorbeiziehen. „Ich muss weiter“, stöhnte er, denn sein Leittier war schon beinahe außer Sichtweite, und ohne weitere Worte humpelte er davon. Er war, ganz offensichtlich, ein Anfänger.
– Exkurs Ende –
Zurück auf das „Gstreinsjöchl“. Da sich hinter uns bedrohlich anmutende Wolken auftürmen und wir, da wir mitten darin stehen, nicht genau sagen können, wie gewitterschwanger diese sind, machen wir uns an den mühevollen Abstieg. Es ist tatsächlich noch schlimmer als gedacht, ich spüre, wie sich Blasen auf den Blasen an meinen Füßen bilden, durch die Adern pumpt Batteriesäure, ich bin nassgeschwitzt und das nicht nur aus Anstrengung; den steilen Felspfad vor Augen, das Gewitter im Nacken wandert es sich unentspannt. Dann hören wir Schritte, schnelle; verunsichert sehen wir uns um; es ist ein anderer Wanderer, in unserem Alter, braungebrannt, mit viel leichterem Gepäck und in gottverdammten Turnschuhen. Ein Fabelwesen, ein Mysterium: der Trail-Runner. Er überholt uns mit 40 km/h und grüßt freundlich beim Vorbeigehen. Wir trauen unseren rot geränderten Augen nicht.
„Jana“, stoße ich mit rauer Stimme hervor, während Tränen meine Sicht verschwimmen lassen.
„Nur noch zwei Kurven“, krächzt sie, und ich weiß nicht, ob sie mich mit dieser offensichtlichen Lüge trösten will, oder sich selbst.
Weiter geht’s.
Nach unendlicher Zeit kommen wir schließlich bei der Hütte an. Ich bin besiegt und kann mich gerade noch zusammenreißen, nicht auf der Türschwelle zu Boden zu gehen. Der Hüttenwirt, ein älterer, drahtiger Mann mit großer Nase und Augen, die schon alles gesehen haben müssen, kommt gerade aus der Tür und mustert uns von oben bis unten. Das Kreuzverhör beginnt.
„Wo kommt’s ihr her?“, fragt er.
„Wir sind in Steinach los“, sagt Jana, für ihre Verhältnisse kleinlaut.
Er nickt.
„Scheen’s Stück. Das tut gut“, sagt er. Wir ringen uns ein gefälliges Lächeln ab.
Dann verengen sich seine Augen zu Schlitzen.
„Gondel?“, fragt er abschätzig. Wir nicken, denn die Tour begann tatsächlich mit einer Gondelfahrt. Der Blick des Wirtes verfinstert sich.
„Wann seid’s los?“
Wir sagen es ihm. Er schweigt. Dann dreht er sich wortlos um und geht.
Wir trauen uns erst nach einiger Zeit, ihm zu folgen.
Das Abendessen nehmen wir schweigend ein, die Energie reicht gerade noch aus, um durch schaufelnde Bewegungen Bratkartoffeln zuzuführen und grob zu kauen, um die Speicher wieder zu füllen. Beim Duschen treffen wir den Trailrunner: Er wirkt, als käme er von einem leichten Verdauungsspaziergang und nimmt die Treppen mit elbengleicher Leichtfüßigkeit. Mein Unterlid zuckt. Ich schleppe mich weiter wie Frodo an den Hängen des Schicksalsberges.
In der gemütlichen Stube lernen wir ein Rentnerehepaar kennen, das eine ähnliche Tour wie wir geplant hat und nicht im mindesten so abgekämpft aussieht. Die machen mindestens einen dieser Trips jedes Jahr und feiern ihren Urlaub mit einer Schnapsrunde mit unserem Wirt (der keinen weiteren Blick für uns übrig hat). Er lässt seine Hüttengeschichten vom Stapel und berichtet lautstark von einer Gruppe untrainierter, schlecht vorbereiteter Tschechen, die wegen genereller Unfähigkeit ACHT STUNDEN gebraucht hätten für die exakt selbe Tour, für die Jana und ich heute achteinhalb Stunden gebraucht haben. Mir ist zum Weinen zu Mute und nach Aufgeben. Immer schwerer lastet die Erkenntnis auf mir, dass wir Morgen genau das Gleiche tun wie heute, nur mit „Heute“ zusätzlich in Muskeln und Knochen.
Ich gehe früh schlafen und bekomme nur am Rande mit, wie der Trailrunner dem Wirt erzählt, dass er vorhat, morgen 40 Kilometer die Berge auf und ab zu rennen. Der Wirt mustert ihn – und nickt anerkennend.
Irgendwo löst sich ein Schneefeld und rutscht polternd ins Tal.
Im Matratzenlager, das zum Glück nur halb belegt ist, ärgere ich mich nicht einmal mehr darüber, dass immer nur der erste Oropak zu passen scheint und der zweite unmöglich zu platzieren ist. Statt mich in den Schlaf zu weinen, worauf ich nicht übel Lust hätte, denke ich an den Rat, den mir meine bessere Hälfte gegeben hat bevor ich aufgebrochen bin: „Viel Spaß, und lass dich nicht von kleinen Misserfolgen komplett und unwiderruflich niederschmettern.“ Er scheint mich zu kennen. Hätte ich Netz, würde ich mich bedanken.
Als ich erwache, bleibe ich kurz regungslos liegen und spanne langsam Muskelgruppe um Muskelgruppe an. Es geht. Der Schmerz hält sich im Rahmen. Ich atme tief durch und richte mich auf. Das Lager ist bereits fast leer, Bergsteiger fangen den frühen Wurm, oder so.
Auch dieser Tag verlangt mir wieder alles ab. Er beginnt mit einem Schneefeld, unter dem durchgestiegen werden muss, eine Stelle verlangt sogar das Vorauswerfen der Ausrüstung, ich werde kurz unproduktiv hysterisch, kann mich jedoch wieder fangen. Was gut ist. Der restliche Tag hält wieder so manche Kletterei parat, noch dazu ist es heute richtig heiß, teilweise steigen wir über Leitern zehn Meter senkrecht nach unten, unter uns nur Abgrund und Nichts, die einzige Sicherung unsere bloßen Hände. Wo Jana meint, „Ah, jetzt klettern und ein bisschen schwitzen“, denke ich, „Ah, jetzt klettern und vielleicht hier an Ort und Stelle sterben“, Bilder aus Hollywoods Bergsteigerdramen an meinem inneren Auge vorbeiziehend. Wir machen keine Bilder vom Weg, weil ich sonst Gefahr laufe von meiner Mutter in einen hohen Turm gesperrt zu werden, falls sie sie je zu Gesicht bekommt.
Die Natur ist jedoch zum Heulen schön. Wir sind, nachdem wir gegen halb 10 von allen anderen Wanderern überholt wurden, völlig allein. Es ist still bis auf Wind und Wasserfälle. Wäre alles nicht so anstrengend, könnte man von Erholung sprechen. Doch auch heute überwandern wir Kuppe um Kuppe, und die Hütte kommt einfach nicht in Sicht.
„Dieser scheiß Berg“, fluche ich, „dieser Höllenstein“, denn ja, man kann durch Felsen besiegt werden. Sie sind erbarmungslos und unveränderlich und kümmern sich einen Scheiß um die fluchenden Kreaturen, die sich auf ihnen tummeln. Mir wird klar, dass Wandern etwas sehr Philosophisches ist, die Kalenderblatt-Sprüche liegen quasi am Wegesrand: „Der Weg ist das Ziel“, „Ein Schritt nach dem anderen“, „Auch wenn man aufgeben will, geht es immer weiter“, ich bekomme Brechreiz angesichts der offensichtlichen Plattheit und Unveränderbarkeit meiner Situation.
Nach einer weiteren unbarmherzigen Hügelkuppe entschließen wir uns zu einer – hoffentlich – letzten Pause.
Ich sauge wie wild an meinem Wasserschlauch, doch der Beutel scheint leer zu sein. Jana gibt mir von ihrem Wasser ab. Ich liege auf dem Rücken wie eine Schildkröte, der Atem geht schwer, die Lippen sind rissig, der Schweiß steht im Gesicht, die Schultern pochen und brennen. Ich bin allein mit meinen Körperfunktionen und mit ihnen überfordert.
„Es ist der Rucksack“, stöhne ich und wende mich an Jana, „Er ist so schwer.“
Kurz stelle ich mir vor, wie Jana sich mit Tränen in den Augen erhebt, mich entschlossen anstarrt und es dann aus ihr herausbricht: „Ich kann ihn nicht für dich tragen – aber ich kann DICH tragen!“ und mich auf ihre Schultern hievt – doch leider ist dies kein Herr-Der-Ringe-Film, und mit Adlern ex machina ist nicht zu rechnen. Das einzige, was mich auf den Gipfel dieses Berges bringen wird, sind meine gottverdammten Beine.
Immerhin nickt Jana, versichert mir, dass ich sehr tapfer sei, diese Wanderung mit ihr zu wagen, dass sie auch müde sei und zur weiteren Ermutigung darf ich noch von ihrem Snickers beißen. Es schmeckt so gut, mir kommen die Tränen.
Als wir die Hütte erreichen, bei strahlendem Sonnenschein, ist es trotzdem ein großer Triumpf. Es gibt zwar keinen Applaus, aber freundliche Begrüßungen von den anderen Wanderern. Das Apfelschorle schmeckt herrlich. Und, weiteres Highlight: Diese Hütte hat WLAN! Ich setze Lebenszeichen über meine verschiedenen Messenger ab, als erstes schreibe ich einer Freundin, die im Vorfeld besorgt war um mein Wohl:
„Sollte dich jemand auf eine Höhenwanderung einladen, nimm die Beine in die Hand. Es ist scheiße gefährlich, sau anstrengend und Spaß dabei zu haben erfordert eine mindestens mittelschwer ausgeprägte Persönlichkeitsstörung. Aber was uns nicht umbringt, macht uns bekanntlich komischer. I will survive.“
Meiner Mutter schreibe ich dagegen:
„Hallo Mama 🙂 Wir haben sehr viel Spaß! Das Wetter ist gut und eigentlich ist es jeden Tag nur wie ein langer Spaziergang 🙂 🙂 Hab dich lieb <3“
Meine Kinder bekommen Höhenweg-Verbot.
So, jetzt haben wir viel über den Horror des prolongierten Bergwanderns gehört, aber wo bleibt die Moral? Was können wir aus diesem uns geschilderten Leidensweg lernen? Was mitnehmen in unser bescheidenes, wanderfreies Leben?
Ich möchte ehrlich sein in diesem Text, und nichts unterschlagen. Daher hier mein Bekenntnis: Wir haben die Wanderung vorzeitig abgebrochen. Vor der längsten, anstrengendsten, schwersten Etappe haben wir die Waffen gestreckt und sind in die Knie gegangen. Denn auf einem Höhenweg hat man nichts verloren, wenn die Füße streiken und der Wille schwindet. Steigen in Höhen erfordert Präsenz, Konzentration und die viel beschworene Trittsicherheit, und sollte die nicht mehr da sein, hat man der Vernunft nachzugeben. Wir haben kurz diskutiert, aber den Weg ins Tal eingeschlagen.
Beim Abendessen mit unserem Rentnerehepaar verkünden wir diesen Beschluss und sehen in entsetzte Gesichter.
„WAS?“, fragt die Rentnerin. „Ihr gebt einfach auf?“
Wir sehen uns an, und zum Glück sind wir uns einig, und zum Glück sind Jana und ich schon ein paar Tage länger auf dieser Erde, beide beruflich Menschen regelmäßig ausgesetzt und auch daher Inhaberinnen einer in weiten Teilen gefestigten Persönlichkeit, sodass der Gedanke an eine Niederlage nur kurz in unseren Köpfen ist und dann der Erkenntnis weicht, wie weit wir eigentlich gekommen sind.
„Wir geben doch nicht auf“, sagt Jana, „Wir ändern nur den Plan.“
So, und das ist er, der schnulzige Schlusssatz, und das ist es auch, was ich aus den Bergen mitgebracht habe. Manchmal ist der Weg des geringsten Widerstands nicht der, den man sich vorher vorgenommen hatte. Aber oft ist er weniger gefährlich, seilversichert, weniger abschüssig und nicht in regelmäßigen Abständen versehen mit Plaketten der tödlich verunglückten Vorgänger. Weg bleibt Weg, und wenn man ihn auch nur halb beschreitet, so hat man doch ein gutes Stück geschafft.
Im Tal habe ich jedenfalls ausgepackt und als allererstes, noch voller frischer Erfahrungen, meine Packliste optimiert.
Man weiß ja nie, was für Wege einen noch erwarten.